vorheriges Newsletter | Liste Newsletter | nächstes Newsletter |
_____________________________________________________________________________________________
Newsletter 6
Altes & Neues
Liebe Heimat- und Geschichtsfreunde,
nach zweijähriger Forschungsarbeit wurden am 15.11.2022 im Stadttheater Filou die Ergebnisse des Projektes der Geschichtswerkstatt des Heimat- und Geschichtsvereins Beckum „NS-Zeit in Beckum“ präsentiert. In vier Kurzvorträgen wurden die Themen Judenverfolgung, die Verfolgung von SPD und KPV, Zwangsarbeit sowie die Unterrichtseinheiten für Schulen bezogen auf die Stadt Beckum vorgestellt.
Das gesamte Projekt kann auf der Webseite www.geschichtswerkstatt-beckum.de eingesehen werden.
Nachstehend finden Sie den von Reinhold Sudbrock gehaltenen Kurzvortrag.
Mit freundlichen Grüßen,
Der Vorstand
des Heimat- und Geschichtsvereins Beckum e.V.
Reinhold Sudbrock
Zwangsarbeit in Beckum in der Zeit von 1939 bis 1945
Erinnern wir uns: Der 2. Weltkrieg begann am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen. Polen war rasch besiegt und das Deutsche Reich begann sofort mit dem Aufbau einer deutschen Verwaltung in Polen. Die deutschen Arbeitsämter hatten dabei eine wichtige Aufgabe: Sie sollten polnische Arbeitskräfte als Ersatz für die zur Wehrmacht eingezogenen Männer bereitstellen. Die Arbeitsämter arbeiteten hier eng mit der Wehrmacht zusammen. Schon im Oktober 1939 bekam die Stadt Beckum die ersten polnischen Kriegsgefangenen für die Zementindustrie. Daneben versuchten die Arbeitsämter, zivile Arbeiter mit Versprechen von guter Arbeit und gutem Lohn nach Deutschland zu locken. Als das nicht fruchtete, wurden den polnischen Gemeinden Gestellungskontingente auferlegt. Und ab Frühjahr 1940 bis zum Ende des Krieges kam es zu Zwangsrekrutierungen und zu Razzien durch die deutsche Polizei und die SS, da die Kontingentierung nicht erreicht wurde.
Nach dem Überfall auf Frankreich, die Niederlande, Belgien und Luxemburg kam es ab 1940, ab Sommer 1941 auch aus Rußland zu einem Einsatz von Menschen aus diesen Ländern als Zwangsarbeiter, sowohl als Kriegsgefangene wie auch als Zivilarbeiter. Bis Ende des 2. Weltkrieges wurden mehr als 1.000 zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gegen ihren Willen nach Beckum gebracht, verschleppt und hier ausgebeutet:
- 859 zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sind belegt durch die Melderegister beim Kreisarchiv Warendorf, meist mit Geburtsdatum, Geburtsort sowie Angabe des Betriebes in Beckum, in dem sie arbeiten mussten und den Ort der Unterbringung.
Weitere Angaben über Zwangsarbeiter habe ich vom Arolsen-Archiv, dem internationalen Zentrum über die NS-Verfolgung:
- 184 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Listen der AOK, denn die zivilen Zwangsarbeiter mussten auch gegen Krankheit und Unfall versichert sein. Die tatsächliche Zahl dürfte um einige hundert höher sein, denn viele Zwangsarbeiter wurden der AOK nicht gemeldet.
Das sind insgesamt 1.043 zivile Zwangsarbeiter, davon 246 Franzosen, 199 Russen, 179 Polen, 145 Holländer, 126 Ukrainer und 91 Italiener.
- Dazu kommen 945 Meldungen des Arbeitsamtes Ahlen über kriegsgefangene Zwangsarbeiter, die meisten ohne Namensangabe, aber mit Angabe der jeweiligen Lager.
- Ferner Listen der beiden Krankenhäuser in Beckum und Neubeckum über ausländische Personen, meistens mit Namen und Geburtsdatum, Verweildauer und Art der Krankheit:
332 Personen, zusätzlich 11 Geburten im Elisabeth-Krankenhaus und
82 Personen plus 2 Geburten im Josefskrankenhaus Neubeckum,
- Dazu kommen weitere Listen aus dem Arolsen-Archiv über Zwangsarbeiter im Polizeigefängnis und Gerichtsgefängnis Beckum:
310 im Polizeigefängnis, davon 233 Russen,
113 im Gerichtsgefängnis und
21 Verurteilungen durch das Amtsgericht.
Das heißt, bis Ende des Krieges sind in Beckum mindestens 2.000 Zwangsarbeiter, zivile und kriegsgefangene, belegt. Die Zahlen aus den Krankenhäusern und Gefängnissen (871) nicht mitgerechnet, da die meisten nicht zugeordnet werden konnten.
In den Protokollen der Polizeidienststelle finden sich ca. 200 Eintragungen zu Zwangsarbeitern. Hier sind u.a. Festnahmen von Zwangsarbeitern durch Polizei oder Wehrmacht aufgeführt. Häufig handelt es sich dabei um die Festnahme insbesondere polnischer, ukrainischer oder russischer Zwangsarbeiter außerhalb der Arbeitsstellen in den Bauerschaften oder um Verweigerung der Arbeit. Protokolliert sind auch Fluchten; ob sie gelungen sind, lässt sich den Protokollen nicht entnehmen. In den Protokollen werden fast immer die Namen der Zwangsarbeiter genannt, eine Übereinstimmung mit Namen aus dem Kreisarchiv ist wegen der unklaren Schreibweise aber selten gelungen. Insbesondere bei den Russen ist oft vermerkt „Abgabe an die Gestapo Münster“.
Die in der Landwirtschaft arbeitenden zivilen Zwangsarbeiter wohnten teilweise auf den Bauernhöfen, teilweise aber auch in speziellen Lagern in den Bauerschaften. Für die in der Industrie arbeitenden waren meistens besondere Lager, wie hier im Bild, z.B. bei den Zementwerken errichtet worden. Aber auch über die gesamte Stadt verteilt wohnten Zwangsarbeiter, die in Geschäften und Haushalten arbeiten mussten. Allein in Beckum waren Zwangsarbeiter in mindestens 156 Betrieben und Haushalten eingesetzt, in Neubeckum in 35 und in Vellern in 24 Betrieben und Haushalten.
Aus den Sammellagern wurden die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter dann jeden Morgen durch die Stadt zu ihren Arbeitsstellen geführt.
Sprecherin
Als Kind ging Gertud L. in die Elisabethschule, die früher am Standort der heutigen Bücherei stand. Auf ihrem Weg zur Schule sah sie morgens häufig eine Gruppe Zwangsarbeiterinnen auf der Nordstraße, die, von Soldaten mit aufgepflanzten Seitengewehren begleitet, an ihre Einsatzorte zur Arbeit gebracht wurden. “Einmal sah ich eine Frau, die bettelte um mein Butterbrot. Ich gab der Frau mein Brot, aber der Soldat, der die Szene beobachtet hatte, entriss es ihr, warf es auf die Straße und zertrat es.“
Die größten Lager für Kriegsgefangene waren bei den Zementwerken Bomke u. Bleckmann und Phönix. Hermann Helming erinnert sich in seiner Autobiographie an einen tragischen Vorfall beim Zementwerk Bomke u. Bleckmann (heute Holcim).
Sprecher
„mein Vater wurde zur Zementfabrik Bomke u. Bleckmann gerufen (der Vater war Arzt am Beckumer Krankenhaus). Dort waren etwa zwanzig russische Kriegsgefangene angekommen zur Arbeit. Die Frau, die sie zu versorgen hatte, sah die verhungernden Gestalten und kochte ihnen eine kräftige münsterländische Kartoffelsuppe mit viel Speck – zwölf starben –mein Vater konnte nicht helfen – nur die Frau für die Zukunft aufklären“.
Es ist nicht bekannt, wo diese 12 Kriegsgefangenen beerdigt sind. Im Sterbebuch der Stadt Beckum sind sie nicht aufgeführt. In Neubeckum war besonders das Lager Lourenkamp berüchtigt, das nördlich der Bahn nahe der Eisenbahngeleise gelegen war. Die Aufgabe der Lourenkamp-Arbeiter war die sofortige Reparatur der Bahnanlagen und Wiederinbetriebnahme nach Zerstörungen durch Fliegerangriffe. Von den russischen Arbeitern wird berichtet, dass sie die zerstörten Geleise „unter strengster Aufsicht und andauernder Prügel mit Reitpeitschen zu reparieren“hatten. Der damalige deutsche Rottenführer, so haben Zeitzeugen berichtet, wurde dann auch nach der Befreiung durch die Zwangsarbeiter erschlagen.
Bestürzend sind die Daten aus den „Lagerbüchern“ des „Entbindungs-und Abtreibungslagers Waltrop-Holthausen“, in dem auch Zwangsarbeiterinnen aus Beckum und Neubeckum entbinden oder abtreiben lassen mussten. Diese Lager, wie auch in Waltrop-Holthausen[1] wurden in ganz Deutschland auf Anordnung des Reichssicherheitshauptamtes, also des SS-Führers Himmlers als zentrale Aufnahmestelle für Schwangere, hier für ganz Westfalen eingerichtet. Bei einem „positiven Ergebnis der rassischen Untersuchung“ sollten die „förderungswürdigen“ Kinder in Heime der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt NSV oder in Familienpflegestellen kommen. In negativen Fällen sollten die Kinder in eine Kinderpflegestätte für ausländische Arbeiterinnen kommen. Die Bedingungen für diese Kinder waren so, dass ein großer Teil der Säuglinge vor Vollendung des ersten Lebensjahres starb. Über die Frauen wurde ein Lagerbuch geführt, über Ankunft und Weggang und über die Geburten. In den Lagerbüchern sind fünfzehn Zwangsarbeiterinnen, die von Beckum oder Neubeckum kamen bzw. dorthin zurückgingen, genannt. Hiervon haben sechs Frauen ein Kind geboren. Über die anderen Frauen wird nur Ankunft und Weggang verzeichnet.
Bei den 15 Zwangsarbeiterinnen, die von Beckum nach Waltrop geschickt wurden, fehlt der Name Alexandra Klimkiewicz, Landarbeiterin auf einem Hof in Beckum in der Bauerschaft Dalmer. Die Lagerbücher enden nämlich Mitte Februar 1945. Alexandra Klimkiewicz hat in diesem Lager in Waltrop am 18.3.1945 die Zwillinge Maria und Josef geboren. Maria ist am 8. April, Josef am 9. April 1945 im Vinzenshaus in Beckum, Südstraße 13, verstorben. Beide Zwillinge wurden in einem Grab auf dem katholischen Friedhof in Beckum beerdigt. Der Grabstein hat allerdings eine falsche Inschrift: Das Sterbedatum 19.3.1945 ist falsch und es sind polnische Kinder, da die Mutter laut Geburtsurkunde der Kinder Polin ist.
Auf dem Elisabethfriedhof sind etwa 35 Zwangsarbeiter beerdigt, die meisten Russen und Polen und ein Belgier und ein Grieche. Die Anzahl war ursprünglich höher; insbesondere die westlichen Länder haben ihre Toten nach Hause geholt. Auf dem kath. Friedhof in Neubeckum sind 2 Russen beerdigt.
Nach dem Einmarsch der Amerikaner in der Nacht zum 1.4.1945 (Ostersonntag) war der Krieg für die Beckumer, Neubeckumer und Vellerner Bevölkerung zu Ende. Die alliierte Besatzung ging sofort daran, die Fremdarbeiter möglichst schnell abzuschieben.
Zuerst und sofort wurde Wohnraum für die alliierten Soldaten und befreiten Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeiter benötigt. Dafür wurden[2] am 10. April 485 Wohnungen, insbesondere nördlich der WLE, von den Alliierten beschlagnahmt.
Die befreiten Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen versuchten teilweise mit Gewalt, sich Nahrung und Kleidung zu verschaffen, teils sich auch an den ehemaligen Herren zu rächen. Mancher Bauernhof ging in Flammen auf.
Dies sind die Erinnerungen, die sich dann zum Thema Zwangsarbeit verfestigt haben.
Danach passierte viele Jahre nichts. Eine Befassung erfolgte in Deutschland erst um das Jahr 2000, als die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter politisch beschlossen wurde.
Im Jahr 2000 hatte der Deutsche Bundestag beschlossen, auch den ehemaligen sowjetischen Zwangsarbeitern eine „Anerkennungsleistung“ zu gewähren. Man ging davon aus, dass zu dieser Zeit nur noch etwa 4000 ehemalige Zwangsarbeiter, bezogen auf ganz Deutschland lebten. Die Überlebenden der Zwangsarbeit mussten ihren Anspruch auf Entschädigung glaubhaft machen durch Angaben über ihre Tätigkeit. Das war nicht immer möglich, denn in den Ausländerregistern der Gemeinden fehlten viele Namen. Ein Beispiel für die Schwierigkeiten, mit denen Antragsteller zu kämpfen hatten, ist der Schriftwechsel der Zwangsarbeiterin Anna Ewsenko aus der Ukraine. Nach einer offensichtlichen Ablehnung durch die Verwaltung in Beckum schreibt Anna Ewsenko noch einmal, nennt noch einmal ihre Arbeitsdaten:
Sprecherin
„Ich war gewaltsam nach Deutschland verschleppt und jetzt muss ich es demütig beweisen.“
Anna Ewsenko wurde in der Zwangsarbeiterkartei der Stadt Beckum genannt, evtl. war ihr Name dort nicht korrekt geschrieben. Letztlich führten die Angaben doch wohl dazu, dass ihr geglaubt wurde und sie die erbetene Bestätigung durch die Stadt erhielt. Ob sie eine Entschädigung erhalten hat, ist nicht bekannt.
In meiner Arbeit habe ich sämtliche Namen der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, soweit ich sie gefunden habe, aufgeführt. Es war mir wichtig, diese Namen, die bisher anonym waren, wenigstens einmal zu nennen.
Ich würde mir wünschen, dass durch diesen Vortrag und die Veröffentlichung der Arbeit vielleicht doch noch Informationen über Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Beckum bekannt werden. Wir würden uns freuen, wenn Sie dann Kontakt mit uns aufnehmen würden. Und vielleicht werden ja auch die Firmen, die damals Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, und die wir angeschrieben haben, auch noch antworten.
[1] http://www.westfaelische-geschichte.de/chr849.
² Heimat- und Geschichtsverein Beckum, Beckumer Geschichten, Als Beckum 485 Wohnungen räumen musste.